
Norbert Siegl:
GRAFFITI - ein internationaler Vergleich
BERLIN - WIEN (1994 bis 1996) |
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Graffiti (Einzahl Graffito) ist ein Oberbegriff
für viele gestalterisch und inhaltlich unterschiedliche Mitteilungen.
Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie ungefragt auf fremden oder in öffentlicher
Verwaltung befindlichen Flächen angebracht werden - siehe: Definition des
Begriffs Graffiti -
www.graffitieuropa.org/definition.htm
Betrachtet man Graffiti als eine alternative Kommunikationsform,
so ist Nähe und Verwandtschaft zu Klebern, "wilden Plakaten", Transparenten
und privaten Suchanzeigen gegeben. Durch die Nutzung freier Flächen besteht
ein Naheverhältnis zur Werbung. Plakatwände reduzieren einerseits
die Flächen für Graffiti, andererseits bieten sie neue Flächen
für (kurzlebige) Mitteilungen. Besonders zu Wahlkampfzeiten wird dieses
Angebot vielfältig genützt. Graffiti-Style und Graffitimotive werden
als gestalterische Elemente für Werbung verwendet, Graffiti als (entfremdeter)
Begriff manchmal zur Bezeichnung von Produkten. Weitere Kommerzialisierung
von Graffiti findet man bei der Wiedergabe selektierter Inhalte auf T-Shirts,
Trinkgefässen, Postern und in Spruchsammlungen. Graffitikünstler
tragen ihre Motive in den Kunstbereich, Auftragsarbeiten geben einigen Writern
die Möglichkeit, mit ihrem Können Geld zu verdienen.
Graffiti-Forschung als systematische Wissenschaft wurde erstmals
um 1850 von Archäologen und Altertumsforschern an antiken Inschriften
und Zeichnungen betrieben. Später wurde auch gegenwärtig auffindbares
Material zum Untersuchungsgegenstand verschiedener Disziplinen und ab 1980
kann man von einer transdisziplinären Graffiti-Forschung sprechen. Die
Grundintention dabei war stets, über diese frei emittierten Äußerungen Meinungen und Einstellungen unverfälscht erfassen zu können.
In der Studie "Kulturphänomen Graffiti", die von mir im Auftrag
des österreichischen Wissenschaftsministeriums durchgeführt wurde,
ist in internationaler Zusammenarbeit erstmals ein
Vergleich von Graffiti aus drei verschiedenen Erhebungszonen
- WIEN (W), BERLIN-OST (B-O) und BERLIN-WEST (B-W) - vorgenommen worden.
Das zugrunde liegende Analysematerial - 9000 Bildeinheiten - wurde bei Erhebungen
in den Jahren 1995 und 1996 fotografisch erfasst und daran vier zentrale
Fragestellungen untersucht:
1. Welche Themen werden in Graffiti geäußert?
2. Bestehen internationale Unterschiede bei Graffitithemen?
3. Wie weit sind Graffiti Indikatoren des Zeitgeistes und gesellschaftspolitischer
Ereignisse?
4. Besteht ein Zusammenhang zwischen Jugendinteressen und Graffitithemen?
zu 1.) WELCHE THEMEN WERDEN IN GRAFFITI GEÄUSSERT ?
Diese Fragestellung wurde mit einer thematischen Inhaltsanalyse beantwortet,
indem eine Zuordnung der 9000 Bildeinheiten zu Kategorien vorgenommen wurde.
Die insgesamt 22 Kategorien wurden zu vier Großbereichen zusammengefasst.
Von diesen Großbereichen enthalten drei - GESCHLECHTERBEZIEHUNGEN,
POLITIK und ANDERE BEREICHE - die thematisch zuordenbaren Inhalte, der Großbereich
KÜNSTLERISCHE PRODUKTIONEN enthält die thematisch nicht deklarierten,
vorwiegend künstlerisch motivierten Graffiti.
Geht man von der Quantität aus, so enthalten die meisten Graffiti
eine klare, thematisch fassbare Botschaft. Davon entfällt der Grossteil
auf die beiden Bereiche "POLITIK" und "GESCHLECHTERBEZIEHUNGEN".
Besonders breit gefächert ist der BEREICH POLITIK und es sind
v.a. die beiden Extrempositionen "RECHTS" und "LINKS, ANARCHISMUS, AUTONOME",
die häufig zum Ausdruck gebracht werden. Daneben gibt es viele politisch
undeklarierte Äußerungen, in denen Skepsis und Ablehnung gegen das
System des Parlamentarismus, gegen Parteien und Politiker geäußert werden.
Gehäuft findet man solche Aussagen in Wahlkampfzeiten, in denen die
Plakate werbender Parteien oft Fläche für Reaktionen von Aktivisten
sind. In einer Reihe zusätzlicher Kategorien trifft man auf viele andere
Graffiti, die einerseits lokale, regionale und nationale Anliegen behandeln
und sich andererseits mit Krieg und Frieden, Gerechtigkeit und Polizei beschäftigen.
Viele sehr zeitbezogene Anliegen werden in der Kategorie "Umwelt, Tierschutz" geäußert.
Im BEREICH GESCHLECHTERBEZIEHUNGEN werden vorwiegend private, individuelle
Anliegen abgehandelt. Liebeserklärungen werden häufig mit einem
Namen gekoppelt. In der Kategorie "Sexualität", werden die individuellen
Bedürfnisse und Ansichten genereller an die Öffentlichkeit getragen.
Die Kategorie "Frauenspezifisches" beinhaltet hauptsächlich Aussagen
von öffentlichem Interesse, indem gegen Sexismus, Vergewaltigung, und
für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Frau Stellung bezogen
wird.
Neben diesen beiden Großbereichen werden viele andere Inhalte geäußert.
Diese Kategorien sind unter ANDERE BEREICHE zusammengefasst: "Grüße,
Namen, Nachrichten", "Beschimpfungen, Drohungen", "Familie, Schule", "Pop,
Musikstile", "Sportgruppen, Gangs", "Religion", "Realität, Drogen",
"Welt, Menschen, Tod", und "Seltenes, Undefinierbares".
Nicht jedes Graffito kann thematisch zugeordnet werden. Dies trifft
v.a. auf jene Graffiti zu, die im BEREICH KÜNSTLERISCHE PRODUKTIONEN
eingeordnet wurden, also vorwiegend die Zeichnungen von Gesichtern, Figuren
und Tieren. Ebenso ist bei den meisten Bildern grafisch orientierter Künstler
keine thematische Botschaft erkennbar.
Mengenmäßig v.a. in Berlin sehr stark verbreitet, alles überwuchernd
und überall zu finden, in Wien auf wenige Zonen begrenzt, sind die Produktionen
der Graffiti-Writer. Die American-Graffiti der Writer beinhalten hauptsächlich
Namen, dabei steht die Individualbotschaft des "Ich war hier", "Mich gibt
es", im Vordergrund. In den gesprayten Characters werden häufig Motive
dieser Kulturform transportiert (z.B. die Spraydose) und auch die Messages
haben Inhalte, die sich v.a. auf die Entstehung des Bildes beziehen, Nachrichten
an andere Writer beinhalten oder die Feindbilder (Sokos, Verkehrsbetriebe)
betreffen. In den Auftragsarbeiten werden die Bilder entsprechend den Intentionen
des Auftraggebers zu Trägern von anderen Botschaften, wie Geschäftsnamen
und Öffnungszeiten, und/oder sie werden zur Dekoration.
zu 2.) BESTEHEN INTERNATIONALE UNTERSCHIEDE BEI GRAFFITITHEMEN
?
Inhaltlich betrachtet, lassen sich alle großen Themenbereiche in
allen drei Erhebungszonen finden, wenn auch die mengenmäßige Ausprägung
sehr unterschiedlich ist und beim Ausdrücken von Inhalten ortsspezifische
Terminologie verwendet wird.
Eine wichtige Voraussetzung für Entstehung und Haltbarkeit von
Graffiti sind verfügbare Flächen im öffentlich zugänglichen
Raum. Ich möchte daher zuerst einige Besonderheiten hinsichtlich dieser
Grundvoraussetzung erläutern und erst dann näher auf die thematischen
Unterschiede eingehen.
Insgesamt betrachtet, ist die
größte Anzahl von Graffiti in
der Zone B/O anzutreffen. Die Gründe liegen v.a. bei den architektonischen
Besonderheiten und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Weitgehend
findet man in Ostberlin stark desolate Fassaden, Innenhöfe und S- und
U-Bahn-Stationen und dadurch bedingt eine geringere Aufmerksamkeit den Graffiti
gegenüber. Allgemein ist in Ostberlin auch ein viel freierer Umgang
mit Flächen in und um Häuser festzustellen. Ein Grund dafür
liegt vermutlich im Mangel an vorgefertigten Tafeln zu DDR-Zeiten. Daher
sind häufig Straßennamen und Hausnummern, aber auch Verbote und Hinweise
improvisiert direkt an die Wand geschrieben oder gemalt.
Besonders Graffiti-aktive Zonen sind Stationen am Stadtrand, welche wenig
überwacht sind, wo längere Wartezeiten bestehen, und die Beseitigung
von Graffiti selten erfolgt. In einigen dieser (oft großflächig angelegten)
Stationen bilden sich Treffpunkte für Jugendliche heraus. Eine weitere
Besonderheit in Ostberlin sind gemauerte und gelb gestrichene Wartehütten,
die eine ideale Schreibfläche darstellen. In Westberlin und Wien erfolgte
weitgehend eine Umstellung auf (nachts beleuchtete und leicht zu reinigende)
Wartehütten aus Plexiglas, an denen mit herkömmlichen Schreibwerkzeugen
keine haltbaren Botschaften hinterlassen werden können.
In den zentraleren Bezirken der Zone B/O (Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain)
kommt hinzu, dass die Hausbesetzerszene, die sich traditionell über
Graffiti artikuliert, dort Fuß gefasst hat und ihre Anliegen über großformatige
Politgraffiti verbreitet. Vergleichbar hinsichtlich Häufigkeit
dieser Art von Politgraffiti ist dieser Teil der Zone B/O v.a. mit den ehemaligen
Grenzbezirken in B/W, die hohen Ausländeranteil aufweisen (Kreuzberg,
Neukölln), und wo ebenfalls stark vernachlässigte Gebäude
und Fassaden anzutreffen sind. Dazu kommt in diesen Bezirken eine ethnisch
sehr heterogen zusammengesetzte Bevölkerung. Konflikte zwischen oder
innerhalb der Volksgruppen werden dann oft über Graffiti ausgetragen.
In B/W gibt es sehr viele Graffiti in den großen, campusartig angelegten
Universitäten und zwar sowohl im Inside- als auch im Outside-Bereich.
Thematisch sind sie ebenso weit gefächert wie auch sonst, dominant sind
aber eindeutig die Bereiche Links und Anarchismus sowie die vielen Graffiti
feministischer Gruppen. Graffiti "rechter" Aktivisten sind selten. Demgegenüber
ist in den Universitätsgebäuden im Osten wenig zu finden
und auch in Wien (obwohl vorhanden) sind Graffiti mengenmäßig weniger
ausgeprägt.
Thematisch betrachtet sind die Unterschiede zwischen Berlin (Ost-
und Westteil) und Wien v.a. dort besonders groß, wo lokale, regionale und
nationale Anliegen behandelt werden.
So ist die Deutsche Wiedervereinigung auch kaum Thema in österreichischen
Graffiti, in Berlin jedoch häufiger Anlass zu Auseinandersetzungen,
wobei im Westteil v. a. die Kosten dieses Ereignisses Unzufriedenheit auslösen,
während im Ostteil eine Art DDR-Nostalgie erkennbar ist. Ebenso gibt
es Graffiti, anhand derer man die Einzelereignisse rekonstruieren kann, die
zur Auflösung der DDR führten. Viele Graffiti haben den Themenschwerpunkt
"Hauptstadt Berlin" und Bewerbung um die Olympiade 2000; regionale Aversionen
sind v. a. gegen Sachsen gerichtet.
In Österreich ist die Auflösung des Ostblocks ebenfalls Thema,
allerdings viel seltener und manifestiert sich v. a. in der Abnahme der traditionell
linken Symbole Hammer, Sichel und Sowjetstern, die man früher oft als
Gegenmachtsymbol - gegen Hakenkreuze gesetzt - antraf. Sehr aktuell sind
in Wien Graffiti, die sich gegen den EU-Beitritt Österreichs richten.
Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus lassen sich
themengleich abgehandelt in allen drei Zonen finden. Eine Besonderheit in
Berlin ist das vielfältigere Agieren diverser rechtsgerichteter Organisationen,
die über Kleber und - inhaltlich oft gleich - über Graffiti in
Erscheinung treten. Die Volksgruppe der Türken ist in allen drei Erhebungszonen
das Feindbild Nummer 1, in Berlin findet man stärkere nationale Selbstbehauptung
von Türken, ebenso stärkere Agitation kurdischer Aktivisten und
viele türkeiinterne Auseinandersetzungen.Ein Feindbild, das v. a. in
Ostberlin begegnet sind die Vietnamesen. Die starke Hausbesetzerszene, die
vielfältig über Graffiti in Erscheinung tritt, findet man nur in
Berlin. In Wien gibt es wenige Reste in der Umgebung längst geräumter
Häuser (z. B. Aegidigasse). Da die Forderungen der Hausbesetzer stark
mit dem Gesamtbereich "Links, Anarchismus" vermischt sind, gibt es auch dazu
mehr Graffiti in Berlin. Graffiti, in denen die RAF thematisiert wird, sind
in Wien selten, in Berlin häufig anzutreffen und "RAF dich auf!" steht
oft als Synonym für Widerstandsleistung.
Die anderen Themen des politischen Bereiches sind ebenfalls in allen
drei Zonen anzutreffen. Verstärkt in Berlin, nehmen viele aktuelle
Graffiti auf Atommülltransporte Bezug, Proteste gegen Verbauung und
Beton sind naturgemäß auf der "größten Baustelle der Welt" häufiger
zu finden. "Krieg, Frieden" ist in allen drei Zonen Thema, mehr Graffiti
zum Golfkrieg gibt es in Westberlin. Die Auseinandersetzungen im Zusammenhang
mit der Auflösung Jugoslawiens war weit häufiger Thema in Wiener
Graffiti. "Justiz, Polizei" ist in allen drei Zonen anzutreffen, besonders
stark dort wo die Hausbesetzerszene angesiedelt ist.
GESCHLECHTERBEZIEHUNGEN sind Thema in allen drei Zonen, in Westberlin
findet man stärkere Anteile feministischer Graffiti (v.a. im Universitätsbereich).
Bei den Zeichnungen von Gesichtern, Figuren und Tieren gibt es keine
Unterschiede, auf Arbeiten deklarierter Künstler trifft man häufiger
in Berlin.
Die grossen Graffiti der Writer-Kultur (Pieces, Throw ups, ...)
sind im gesamten Stadtbild von Berlin dominant, v. a. entlang der S-Bahn-Linien
und der oberirdisch geführten U-Bahnen. Besonders die Produkte der Tagger
sind in Berlin auch abseits der Hauptverkehrslinien allgegenwärtig.
Eine nur in B/O anzutreffende Fläche für Graffiti der Writer-Kultur
sind oberirdisch angelegte Heizungsrohrsysteme, welche oft kilometerweit
neben den S-Bahn-Linien verlaufen und entsprechend von den Jugendlichen genützt
werden.
In Wien konzentrieren sich die Aktivitäten auf die Hauptverkehrslinie
der S-Bahn, weniger entlang der Badner Bahn und der Westbahn. Eine beliebte
Übungsfläche, teilweise offiziell freigegeben, stellen die vielen
Betonflächen auf der Donauinsel und entlang des Donaukanals dar. Quantitativ
betrachtet gibt es von den Graffiti dieser Variante eine unvergleichlich
höhere Anzahl in Berlin.
Die anderen Themenbereiche sind gleichermaßen in allen drei Erhebungszonen
zu finden: bei Sportgruppen besteht allerdings ein deutlicher Regionalbezug.
Im Bereich Religion sind satanistische Inhalte in allen drei Zonen anzutreffen
- Kirche und irdische Repräsentanten sind meist Negativthema im katholischen
Kulturkreis, in diesem Fall also in Wien.
zu 3.) WIE WEIT SIND GRAFFITI INDIKATOREN DES ZEITGEISTES
UND GESELLSCHAFTSPOLITISCHER EREIGNISSE?
Zur Betrachtung dieser Fragestellung muss grundsätzlich eine
Trennung von Graffiti-Themen in zwei Großgruppen vorgenommen werden:
1. in zeitloses Material
2. in zeitbezogene Graffiti
Unter zeitlosem Material verstehe ich Graffiti, die sich mit zeitkonstanten
Menschheitsanliegen beschäftigen. Dazu zählen v.a. jene Inhalte,
die im BEREICH GESCHLECHTERBEZIEHUNGEN zusammengefasst sind und in denen
individuelle Anliegen, die jede Generation erneut beschäftigen, zum
Ausdruck kommen. Durch die Einbeziehung des Themas AIDS gibt es aber auch
hier aktuelle Bezüge. Ebenso haben die Graffiti der Kategorie Frauenspezifisches,
in welchen häufig eine Auseinandersetzung mit männlichen Verhaltensweisen
und Einstellungen stattfindet, und die Definition eines neuen Rollenverständnisses
der Frau erfolgt, sehr aktuelle Anteile.
Die dem BEREICH KÜNSTLERISCHE PRODUKTIONEN zugeordneten Abbildungen
von Gesichtern, Figuren und Tieren gab es wohl - historisch betrachtet -
schon immer, die Interventionen deklarierter Künstler hingegen sind
eine neuere Erscheinung. Ebenso sind die Produktionen der Writer-Kultur,
die erstmals Anfang der 70er Jahre in Erscheinung traten, eine sehr zeitbezogene
Erscheinung und Ausdrucksform. Man findet Kreationen und Elemente dieser
- ursprünglich von Jugendlichen entwickelten Kulturform längst
kommerzialisiert im offiziellen Bereich.
In den ANDEREN BEREICHEN sind es v.a. die Kategorien "Grüße,
Namen, Nachrichten", "Beschimpfungen, Drohungen", "Familie, Schule", die einen
hohen Anteil zeitloser Problematik beinhalten. Ebenso ist die vorwiegend alltagsphilosophische
Thematik in "Welt, Menschen, Tod" und die Auseinandersetzung mit religiösen
Inhalten relativ zeitkonstant.
Sehr zeitspezifisch hingegen sind die Namen von Gruppen und Sängern,
sowie die Auseinandersetzung zwischen Anhängern verschiedener Sportgruppen.
Während die Kulturdroge Alkohol zeitkonstant Thema in Graffiti ist,
sind in der Kategorie "Realität, Drogen" sehr viele zeitspezifische
Forderungen enthalten, die sich v. a. auf Hanfprodukte beziehen.
Als Auseinandersetzung mit Macht und gesellschaftlichen Verhältnissen
sind Graffiti zwar auch zeitstabil nachweisbar, aber gerade in diesem BEREICH
POLITIK sind die aktuellsten zeitbezogenen Graffiti zu finden. Betrachtet
man Graffiti chronologisch nach den darin angesprochenen Ereignissen, so
sind in Wien die ältesten Graffiti, die mir begegneten, Kruckenkreuze.
Sie waren das Symbol des kurzlebigen Ständestaates der Zwischenkriegszeit.
Als offizielle Hinweisschriften an Wänden von Häusern, aber auch
an Wänden von Bunkern, gibt es Reste aus der NS-Zeit. Ebenfalls in dieser
Zeit entstand das Graffito 05, das heute in konservierter Form an zwei Wiener
Kirchen zu finden ist.
Aus der Nachkriegszeit stammen fragmentarische Überreste von Wahlkampfpropaganda
der KP. Aus den 60er und 70er Jahren findet man Relikte der Flower-Power-Bewegung
und Politparolen im Zusammenhang mit dem AKW Zwentendorf. In Westberlin
kann man ebenfalls noch vereinzelt Relikten aus den 60er und frühen
70er Jahren begegnen, besonders häufig sind dies Parolen der RAF.
Umso näher man an die Gegenwart herankommt, desto dichter wird das Raster
der besprochenen Themen. Dies hängt v. a. mit der Haltbarkeit von Graffiti,
deren Lang- bzw. Kurzlebigkeit zusammen. Sehr konkret nur in Ostberlin zu
finden, sind viele Graffiti aus der Zeit der Auflösung des Ostblocks
und der deutschen Wiedervereinigung. Aktualisiert gibt es heute in Berlin
viele pro und kontra Stellungnahmen zu diesem Ereignis. Die Auflösung
des Ostblocks war vereinzelt auch Thema in Wiener Graffiti. Der Krieg gegen
den Irak beschäftigte Graffiti-Aktivisten v. a. in Wien und Westberlin.
Graffiti im Zusammenhang mit der Auflösung Jugoslawiens sind in allen
drei Zonen dokumentierbar, am häufigsten aber in Wien. Einige Graffiti
in Berlin haben die Ernennung zur deutschen Hauptstadt zum Thema und in vielen
Graffiti wird der Protest gegen die Bewerbung um die Olympiade 2000 zum Ausdruck
gebracht. In Wien gibt es viele Graffiti, in denen der EU-Beitritt negativ
kommentiert wird.
Eine fragmentarische Geschichtsschreibung anhand von Graffiti ist
möglich, da sehr bedeutende Ereignisse (etwa EU-Beitritt in Österreich,
die deutsche Wiedervereinigung in Berlin) immer in irgendeiner Form auch Thema
in Graffiti sind. Meist werden solche Ereignisse aber in einer, der offiziellen
Meinung widersprechenden Weise, behandelt.
zu 4.) BESTEHT EIN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN JUGENDINTERESSEN UND GRAFFITITHEMEN
?
Graffiti, durchgehend durch alle Kategorien betrachtet, sind v.a.
eine Ausdrucksform junger Menschen, von Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen. Die Heterogenität der hier untersuchten Daten erlaubt keine
exakte Zuordnung bestimmter Inhalte zu eindeutig bestimmbaren Altersgruppen.
Betrachtet man Graffiti fundortspezifisch, so kommen sie gehäuft dort
vor, wo viele junge Menschen verkehren: im Umfeld von Schulen, in Universitäten,
in Parks, auf Spielplätzen, ...
Viele Graffiti können bestimmten deklarierten Gruppen von Jugendlichen
zugeordnet werden:
In der Kategorie POLITIK "RECHTS" sind dies Skinheads, Hooligans und Mitglieder
der Wiking-Jugend. Im Bereich ANTIFA gehen ebenso viele Graffiti auf deklarierte
Gruppen Jugendlicher zurück: in Berlin v.a. auf Aktivisten der
Edelweisspiraten,
in Wien auf Bezirksgruppen der Sozialistischen Jugend. Daneben findet man
Ablehnungen rechtsextremer Symbolik und Aussagen auch durch Punks, Skater,
Red-Skins und Writer.
In der Kategorie "LINKS, ANARCHISMUS, AUTONOME" gehen ebenfalls
viele Graffiti auf Jugendliche und junge Erwachsene zurück. Besonders
die in Berlin stark ausgeprägte Hausbesetzerszene und ihre meist jungen
Angehörigen treten über Graffiti in Erscheinung.
Hoch ist auch der Anteil junger Menschen bei den anderen Themen
des politischen Bereiches: bei den Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung,
nach Schutz der Umwelt. Auch Krieg und Frieden, die Ablehnung von Vorgesetzten
beim Militär und Wehrdienstverweigerung enthalten grosse Anteile von
jugendrelevanter Problematik.
Im Bereich Geschlechterbeziehungen besteht ein besonders hoher Anteil,
da altersbedingt starkes Interesse am anderen Geschlecht gegeben ist. Ebenso
stammen die Graffiti feministischer Gruppen hauptsächlich von jüngeren
Menschen.
Im Bereich künstlerische Produktionen fällt v. a. der
große Anteil kindlicher Motive auf, die deklarierten Graffiti-Künstler
sind eher jüngere Erwachsene; Interventionen dieser Art erfordern eine
hohe Mobilität.
Ausschließlich Manifestationen von Jugendlichen sind die "american
graffiti"
als ein Bestandteil der HipHop-Bewegung. Diese Writer sind eine insgesamt zahlenmäßig
geringe Gruppe, deren Teilnahme an der öffentlichen
Gestaltung aber unübersehbar ist und große Einflüsse auf den offiziellen
Bereich ausübt. Aktuell wird gerade bei den Tags, Throw ups und Pieces
die Frage nach der Legitimität der Teilnahme an der Informationsvermittlung
auf öffentlichen Flächen neu gestellt und spaltet die Gesellschaft
in Gegner und Befürworter.
Jugendrelevante Themen begegnen auch in vielen anderen Bereichen,
v. a. in "Familie und Schule", "Pop und Musikstile", "Sportgruppen und Gangs",
sowie "Realität und Drogen". Nicht näher bestimmbare Anteile findet
man in den Kategorien "Grüße, Namen Nachrichten", "Beschimpfungen,
Drohungen", "Religion", "Welt, Menschen, Tod" und "Seltenes, Undefinierbares".
Abschließend lässt sich feststellen, dass Graffiti ein taugliches
- non-reaktives - Messinstrument zum Erfassen von Einstellungen und Bedürfnissen
sind. Der besondere Vorteil liegt in der Authentizität der Mitteilungen,
der Nachteil in der Schwierigkeit bei der Zuordnung zu Altersgruppen und
beim Finden großer homogener Stichproben.
Eine transdisziplinär betriebene Graffiti-Forschung kann Erkenntnisse
und Materialien bereitstellen, die für viele bestehende Disziplinen
von Relevanz sind. Vor allem betrifft dies die Frauenforschung, die Sexualforschung,
die Soziologie, die Psychologie, die Sprach-, Politik-, Geschichts- und Kommunikationswissenschaft
sowie Jugendforschung und Volkskunde.
Der Autor:
Norbert
Siegl, geboren 1952, Mag., Psychologe und Fotograf, lebt
in Wien. Siegl ist der Gründer des Wiener Graffiti-Archivs/Graffiti Doku Europa, des ersten internationalen Dokumentationszentrums für Graffiti.
Diverse Publikationen, Diavorträge, Fachreferate, Hörfunk-
und Fernsehinterviews.
1994 Fotoausstellung "Das Wiener Graffiti-Archiv" in der Kunsthalle Exnergasse
in Wien. Von Jänner 1995 bis Juni 1997 Projektmanagement und Arbeit
an der Studie "Kulturphänomen Graffiti. Ein internationaler Vergleich"
im Auftrag des österreichischen Wissenschaftsministeriums. Ab September
1996 Vorstandsmitglied des ifg (Institutes für Graffiti-Forschung). Ab
Jänner 1997 Weiterführung des Projektes "Kulturphänomen Graffiti"
in eine gesamteuropäische Phase (Graffiti Dokumentation Europa).
Adler, H., Mandl, F., Vogeltanz R., 1991: Zeichen auf dem
Fels - Spuren alpiner Volkskultur. Unken: Museumsverein Festung Kniepaß
Avau, R., 1996: Graffiti - d´humour, d´amour, d´humeur.
Liège: editions dricot
Bosmans,B.,1996: Guide to Graffiti-Research (stark revisionsbedürftig!!!).
Gent: Uitgeverij Rinoceros
Chalfant, H./ Prigoff, J., 1987: Spraycan Art. London: Thames and Hudson
Ltd.
Lievens, St., 1984: Graffiti. Handschriften op Muren en Toiletten. EPO
Müller, S., (Hg.), 1985: Graffiti. Tätowierte Wände. Bielefeld:
AJZ
Schaefer-Wiery S., Siegl, N., (Hg.), 2000: Der Graffiti-Reader. Mit Essays
internationaler Experten zum Kulturphänomen Graffiti und einem ausgewählten
Bildteil aus der "Graffiti Doku Europa". Wien: graffiti edition
Siegl, N., 1993: Kommunikation am Klo. Graffiti von Frauen und Männern.
Wien: graffiti edition
Siegl, N., 1996: Kulturphänomen Graffiti. Ein internationaler Vergleich.
Studie des österr. Wissenschaftsministeriums. Wien: graffiti edition
Siegl, N., 2001: Die Graffiti-Enzyklopädie. Von
Kyselak bis HipHop-Jam. Wien: Österr. Kunst- und Kulturverlag
Stahl, J., 1989: An der Wand: Graffiti zwischen Anarchie
und Galerie. Köln: Du Mont
Suter, B., 1994: Graffiti. Rebellion der Zeichen. Frankfurt: R.G. Fischer
Treeck, B. van, 1993: Graffiti-Lexikon. Street Art - legale und illegale
Kunst im öffentlichen Raum. Neumarkt: edition aragon
Weeber, K.W., (Hg.), 1996: Decius war hier... Das Beste aus der römischen
Graffiti-Szene. Zürich: Artemis und Winkler
Copyright 2010 - Institut für Graffiti-Forschung und
Autor
zum Institut für
Graffiti-Forschung
zur graffiti-edition
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